Seit zwei Jahren gibt es in München ein Festival, das zwei große Stärken dieser Stadt vereint: die weltberühmte Kunstszene und den internationalen Filmproduktionsstandort. Das »Kino der Kunst« findet im April zum zweiten Mal statt. Dieses Mal widmet es sich den Nischen des filmischen Erzählens. Dazu gehören auch Videogames, die das Festival im Museum für Ägyptische Kunst präsentiert.
Vor mehr als zehn Jahren kursierte im Netz eine Liste mit kulturellen Werken, die jeder kennen sollte. Darin tauchte auch Matthew Barneys „The Cremaster Cycle“ auf, ein fünfteiliger sogenannter Kunstfilm mit einer Laufzeit von sieben Stunden. Uraufgeführt 2002 im Guggenheim Museum in New York, im Museum Ludwig Köln und im Musée d‘Art
Moderne de la Ville de Paris. Kein leichtes Unterfangen für denjenigen, der das Werk in
großer Leinwand vollständig sehen wollte. Glücklicherweise zeigt das ARRI Kino zu jener
Zeit, in der diese Liste kursierte, einen Monat lang täglich die fünf Teile, von Ende
Dezember 2005 bis Ende Januar 2006. Nach mehreren Stationen in den wichtigsten Museen für Gegenwartskunst weltweit war „The Cremaster Cycle“ im Kino angekommen, wenn auch nur kurz.
Das schien damals natürlich und ungewöhnlich zugleich. Natürlich, weil auch dieser Kunstfilm filmisch erzählt, genau wie die anderen Filme des Kinoprogramms auch. Ungewöhnlich, weil die Erzählweise eben doch anders ist. Spannungsbögen, Anfang und Ende, Heldenreisen sind nicht in Sicht. Auch wenn es noch so viele Filme gab und gibt, die neue Formen des Erzählens wagen, wie diejenigen des Dogma 95, des asiatischen Kinos, des New Hollywood etc. – so ein Kunstfilm war 2005 immer noch etwas ganz eigenes.
Dann kamen die Künstlerfilme. Aufsehen erregte zum Beispiel die Performance-Künstlerin Miranda July mit Me and you and everyone we know. Nach der Weltpremiere in Sundance zeigte den Film das Filmfest München, wo er in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt wurde. Auch er strahlte eine Art Zauber aus, einen Zauber der individuell-magischen Kreativität jenseits von Finanzierungsaufstellungen und Drehplänen; er war aber konventioneller erzählt als „The Cremaster Cycle“ und hatte sogar ein Happy End. Am bisherigen Ende der Kunstfilmgeschichte steht, symbolisch gesehen, 12 Years a Slave von Steve McQueen, der 2014 mit dem Oscar als bester Film ausgezeichnet wurde.
Matthew Barney, Miranda July und Steve McQueen sind drei Vertreter dieser Gattung, von denen es sehr, sehr viele gibt. Sie verbinden Film und Kunst in einer Weise, die eindeutiger scheint, als es bei Videokunst oder Film an sich der Fall ist. Folgerichtig und notwendig bietet ein Festival diesen Filmen einerseits Raum und Zeit, einander zu begegnen und zu spiegeln, leben die dahinterstehenden Künstler ohnehin davon, dass ihre Werke ausgestellt werden, meist in Museen. Andererseits sind solche Filme mitunter mehr als alle anderen noch so sperrigen Arthouse-Produktionen darauf angewiesen, für das Publikum aufführbar und sehbar gemacht zu werden. Der Ort in München ist dafür ein Glücksfall, und dies aus drei Gründen.
Erstens: Die Spielstätten liegen geographisch nicht nur nah beieinander und unterscheiden sich von sämtlichen anderen Festivals in München, womit eine Einzigartigkeit garantiert ist. Sie decken das sogenannte Kunstareal ab: ARRI Kino, Akademie der Bildenden Künste, Bayerische Akademie der Schönen Künste, Espace Louis Vitton, Haus der Kunst, HFF München, Museum Brandhorst, Pinakothek der Moderne, Staatliches Museum Ägyptischer Kunst und Sammlung Goetz. München isteine Stadt mit Museen und Galerien von internationalem Rang, die den Künstlerfilmen eine erste, zweite oder dritte Heimat bieten kann.
Zweitens: Die Aufzählung der Spielstätten zeigt es: Die Hochschule für Fernsehen und Film München gehört mittlerweile zu diesem Kunstareal. Es war ein Wunsch an den Neubau, dass die Lage die Studenten inspiriert und dass die Studenten die Umgebung inspirieren. Neben allen ökonomischen Aspekten, die das Filmemachen prägen und voraussetzen, ja sogar die historische Grundlage für Hollywood bilden, ist Film auch eine Kunstgattung. Film und Kunst wachsen in München architektonisch und infrastrukturell wieder zusammen. Durch das Festival Kino der Kunst wachsen sie auch ehrfahrbar zusammen.
Drittens: Seit vielen Jahren bemüht sich der Medienstandort Bayern auf verschiedenen Wegen um die Entwicklung von Games. Und dies nicht, um die Gamerszene als isolierte Gruppe zu unterstützen, sondern auch gerade mit einer Einbettung in verwandte Bereiche. Die Antragsheimat der Gamer bei der klassischen Filmförderung FFF Bayern ist dafür ein Beispiel. In diesem Jahr präsentiert das Kino der Kunst auch narrativ interessante Videogames, die das Museum für Ägyptische Kunst unter dem Titel „Archäologie der Zukunft“ ausstellen wird. Kunst, Film und Games finden hier zusammen. Dass ausgerechnet Bill Viola hier zu entdecken sein wird, hätte vor wenigen Jahren wahrscheinlich noch niemand gedacht.
Auf die Frage, warum das Festival, nachdem es 2002 in Köln noch unter dem Namen Kunstfilmbiennale gegründet wurde, zehn Jahre später nach München kam, nennt der künstlerische Leiter und Gründer Heinz Peter Schwerfel weitere Gründe. Die, wie er sie nennt „Trumpfkarte“ Ingvild Goetz war 2007 Präsidentin der Jury der Kunstfilmbiennale in Köln. Sie war eine der ersten Medienkunstsammlerinnen der Welt und berühmt dafür, junge Künstler sehr früh zu entdecken. Unter anderem Matthew Barney. Sie sagte zu Schwerfel: „In München läuft gerade alles zusammen“. Deshalb sei München ein guter Ort für das Festival. Ingvild Götz machte ihn mit Toni Schmid bekannt. Der Ministerialdirigent im Wissenschafts- und Kunstministerium befürwortete das Projekt auf der Stelle und unterstützte es. Mit Ernst-Ludwig Ganzert kam eine dritte wichtige Person hinzu: Der Geschäftsführer der Eikon Süd liefert die Struktur für das Festival.
Als im April 2013 das erste Kino der Kunst in München über die Bühne lief, erstaunte das Publikum Heinz Peter Schwerfel. Die Stadt, die als satt gilt, zeigte sich ausgesprochen neugierig und interessiert, die Vorführungen waren voll. Die jungen Leute wollten etwas Neues sehen, nahmen begeistert an der Filmklasse von Julian Rosefeldt teil. Im Festivalpublikum saß damals auch die Fernsehdirektorin des BR. Bettina Reitz ging von sich aus auf Heinz Peter Schwerfel zu. Da sie das Festival, wie sie sagt, für tonangebend im Bereich Video und Filmkunst ansieht, auch angesichts der hochkarätig besetzten Jury – im damaligen Jahr: Defne Ayas, Isaac Julien, Cindy Sherman, Amira Casar –, bot sie ihre Unterstützung an. Bei der zweiten Auflage in diesem Jahr gehört der BR zu den Förderern des Festivals, auch finanziell. KinoKino wird eine Sondersendung produzieren.
Bettina Reitz spricht in ihrer Begründung für ihre Unterstützung von „einem kreativen Umgang mit Narration“. Dieser ist es auch, der in diesem Jahr das Kuratorische geprägt hat. So sind es vor allem die Nischen, die das Festival beleuchten will. Im selben Jahr, in dem der von der Künstlerin Sam Taylor-Wood (als Sam Taylor-Johnson) inszenierte Kino-Blockbuster Fifty Shades of Grey in den Kinos läuft, konzentriert sich das Kino der Kunst auf die Gegenseite: um das Aufbrechen der konventionellen Narration, um die Aufgabe des zentralperspektivischen Protagonisten, um die Korrektur der Realitäten, um die Lupe der Kunst auf den Film. Gezeigt werden von ebendieser Sam Taylor-Wood die rare 3-Kanal-Videoinstallation Atlantic (1997), außerdem Installationen von Jesper Just, Ed Atkins, Ryan Trecartin und Camille Henrot. Parallele I-IV von Harun Farocki, der im vergangenen Jahr verstarb, wird als Deutschland-Premiere gezeigt. Im Programm werden auch die aktuellen Filme von Shirin Neshat, Pierre Huyghe, Phil Collins, Bjørn Melhus, Saskia Olde Wolbers und Jochen Kuhn laufen.
Sollte es bald wieder eine Liste geben mit Werken, die man gesehen haben muss, das Münchner Publikum zumindest sollte sie dann alle kennen.
(c)Julian Rosefeldt_Deep Gold_2014_Barbara Gross Galerie, München