20 Filme feiern dieses Jahr in der Reihe Neues Deutsches Kino beim Filmfest München ihre Weltpremieren. Programmer Christoph Gröner erzählt im Interview, auf welche Trends und Experimente sich die Zuschauer freuen können.
„Es ist kompliziert“ heißt es in der Programmankündigung deiner Reihe. Was ist so kompliziert am neuen deutschen Kino?
Christoph Gröner: Erst einmal zum Einfachen: Die Zuschauer können in der Reihe wieder eine größtmögliche Vielfalt erwarten, eine Vielzahl unterschiedlicher filmischer Herangehensweisen. Kompliziert ist scheinbar das Zwischenmenschliche und die Komplexität des Zwischenmenschlichen heute – und das drückt sich in den Filmen aus: Wie verhalte ich mich zu anderen? Wie verhalte ich mich in meiner Beziehung, in meinem familiären Umfeld und auch zu mir selbst? All diese Fragestellungen werden immer unter der Bedingung des digitalen Zeitalters behandelt. Es beschäftigt die Filmemacher extrem, wie wir noch zueinander und zu uns selbst finden. Das ist ein Hauptthema.
Weitere Themen, die in den Filmen der diesjährigen Reihe behandelt werden, sind Fragen nach dem Selbstbild, der Selbstoptimierung und der Außenwirkung.
Ein Extrembeispiel kann auch die Selbstauflösung in einer Cloud oder einem sozialen Netzwerk sein. Oder der Versuch, sich selbst zu optimieren, führt gleich dazu, dass es zu Persönlichkeitsspaltungen kommt. Das kann ein surreal-komödiantisches Motiv sein wie in dem Film „Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer?“, wo plötzlich eine Doppelgängerin Alltagsaufgaben übernehmen soll. Oder bei „Die Vierhändige“, wo eine symbiotische Geschwisterbeziehung zu psychotischen Verwicklungen führt. Das ist dann schon ein Psycho-Horror-Thriller, der daraus resultiert.
Es geht aber in den Filmen auch sehr viel um das Thema Solidarität und wie wir in einem positiven Sinne miteinander leben und politisches Engagement gestalten können. Dies wird beispielsweise in „Der lange Sommer der Theorie“ behandelt. Darin geht es darum, wie wir heute in Zeiten steigender Mieten und in einer Gesellschaft, die sich tendenziell zum Unmenschlichen neigt, wieder zu einem menschlicheren Umgang miteinander kommen.
Die Filmemacher appellieren, sich zusammenzusetzen, miteinander zu reden und neue Utopien zu entwickeln.
Geben die Filmemacher darauf Antworten in ihren Werken?
Die Lösungen sind nicht fertig formuliert. Die Filmemacher appellieren, sich zusammenzusetzen, miteinander zu reden und neue Utopien zu entwickeln. Bei Rosa von Praunheims Dokumentarfilm „Überleben in Neukölln“ ist die Utopie in den Menschen, den Paradiesvögeln, die er porträtiert, verwirklicht. Sie trifft aber auf einen neuen Druck des Realen: Diese Paradiesvögel haben in einem eigentlich so freiheitlichen Ort – wie es Neukölln immer war – immer weniger Plätze und Räume. Diese Reflexion hält natürlich auch München den Spiegel vor, wo wir schon lange dieses Problem haben, dass Wohnraum und das Leben ein Problem darstellen, wenn man dem Geld nicht hinterherrennen will. Der Widerstand dagegen kommt aber komischerweise so zahm daher. Für diese Filme ist München der richtige Ort, um hier die Diskussion zu führen, die natürlich eine gesamtgesellschaftliche ist.
Also ist dein Programm doch auch sehr gesellschaftspolitisch, was auf den ersten Blick mit dem Fokus auf das Familiäre, die Innensichten, gar nicht so scheint.
Wenn es diese inneren großen Probleme und Irritationen gibt, wie stellt man dann ein gesamtgesellschaftliches Großes und Ganzes noch her? Dieser Kampf, privates und gesellschaftliches Engagement in Einklang zu bringen, hat sich in den letzten Jahren schon stark angedeutet und setzt sich fort. Es schwelt und beschäftigt die Filmemacher.
Ist das ein neuer Trend, eine aktuelle Strömung im deutschen Kino?
Es ist definitiv erst einmal ein Schwerpunkt in der Reihe. Dieses Thema geht aber weit über die Auswahl hinaus. Die ausgewählten Filme scheinen uns die stichhaltigsten Filme zu sein. Das ist ein großer Unterton, aber nicht der einzige.
Was gibt es noch für Untertöne?
In der Auswahl war bemerkenswert, dass sich das deutsche Filmschaffen – egal ob völlig „independent“ finanziert oder nach klassischen Finanzierungsmodellen – den Genreelementen in stärkeren Maßen öffnet, als es mir bisher begegnet ist. Neben „Die Vierhändige“ gibt es den sehr erotisch aufgeladenen Psychotrip „A Thought of Ecstasy“, es gibt den rasanten Agententhriller „Luna“ oder das brilliant alptraumhafte Psychoduell an einer Autobahnraststätte „Detour“. All das ist aber nur ein kleiner Ausschnitt dieser neuen Öffnung für die Genreelemente, die insgesamt in den angebotenen Filmen spürbar waren. Deshalb musste es in der Reihe auch überproportional dargestellt werden. Es ist ein Trend und es gab viel mehr Filme, die sich diesem Trend öffnen.
In den letzten Jahren war auffällig, dass viele Beiträge eher einen sinnlichen, poetischen Blick hatten.
Der fehlt nicht. Es gibt den äußerst poetischen Erstlingsfilm „Luft“ von Anatol Schuster. Wenn man Luft als Metapher sehen will, ist es der Stoff, den wir zum Leben brauchen, vielleicht auch das Material der Seele. Das ist aber nicht ausgesprochen. Es geht um ein Mädchen, ihr Erwachsenwerden sowie ihre Faszination für ein anderes Mädchen und welche Art von Menschen, Leben, Situationen man braucht, damit sich die Seele entfalten oder man richtig atmen kann. Das ist übrigens auch der erste Film, der von der Edgar Reitz Filmstiftung unterstützt wurde.
Eine große Poesie haben sicherlich auch Filme wie „Blind und Hässlich“ oder „Sommerhäuser“, der das Gefüge einer Familie zum Kollabieren bringt und dabei sehr genau ein Zeitgefühl für die 70er Jahre vermittelt. Es weht ein geradezu französischer Hauch durch den ganzen Film und damit durch die deutsche Reihe.
Sind Filme zu den Themen Migration und Flucht dieses Jahr gar nicht enthalten?
Wir hatten den besten Film der letzten Jahre bereits dazu: „Babai“. Und solch einen Film kann man sich leider nicht jedes Jahr backen. Der Regisseur hatte an diesem Film auch jahrelang gearbeitet. Es ist ein dauerhaft schwelendes Thema, das immer wieder eine große Präsenz hat. In diesem Jahr wurde das Thema aber stärker im internationalen Kino bearbeitet. In der deutschen Reihe klingt das Thema in „Fremde Tochter“ an, eine Liebesgeschichte zwischen einem arabischstämmigen jungen Mann und einer deutschen Tochter aus prekären Verhältnissen, deren Liebe an unterschiedlichen Weltanschauungen zu zerbrechen droht.
Insofern ist hoffentlich das erreicht, was wir immer wollen: ein Panorama der stärksten deutschen Filme zeigen.
In einem Spiegel Artikel heißt es, „die deutschen Filmfestivals stecken in der Krise.“ Als „schöne Ausnahme“ wird das Filmfest München genannt, da eine „große Offenheit für Experimente“ vorherrscht. Würdest du das in Bezug auf deine Reihe unterstreichen? Worin bestehen die Experimente?
Die Reihe hat eine genauso große Offenheit für Experimente wie Filme, die ein großes Publikum auch kommerziell umarmen und große Erfolge erzielen wollen. Das ist aus meiner Sicht kein Widerspruch. Jeder Film erreicht genau das, was er will.
Natürlich gibt es sehr viel Raum für Experimente und radikale Infragestellungen. Das kann so komödiantisch hart zur Schau kommen wie in „Fikkefuchs“, wo männliche Selbstbilder radikal demontiert werden, oder auch in dem Dokumentarfilm „Die Temperatur des Willens“ über die Legionäre Christi, eine der radikalsten Speerspitzen des Katholizismus. Diese Experimente sind überall spürbar.
Insofern ist hoffentlich das erreicht, was wir immer wollen: ein Panorama der stärksten deutschen Filme zeigen.
Das Kuratieren ist bei den vielen Filmstarts pro Jahr die große Herausforderung. Ist es aufgrund der vielen Filme schwieriger geworden, die stärksten unter ihnen zu finden?
Eines war schwieriger in diesem Jahr: Es konnten weitere starke Filme nicht in die Reihe aufgenommen werden. Wir mussten uns in diesem Jahr mehr gegen Filme entscheiden, die auch spannend gewesen wären. Wir haben es von Jahr zu Jahr leichter, Filme für das Programm zu finden, da die Filmschaffenden das Filmfest München als einen zentralen Ort für den Beginn eines deutschen Films begreifen.
Die Reihe ist – trotz des Förderpreises – keine Nachwuchsreihe. Das bietet eben die Möglichkeit, junge Filmemacher neben etablierte Filmemacher zu stellen. Das macht uns am meisten Spaß.
Wie sieht es in diesem Jahr mit Filmen von den Filmhochschulen aus?
Es gibt zwei HFF München-Produktionen und eine von der dffb. Auffällig ist, dass es insgesamt tatsächlich weniger Filmhochschulfilme als in den letzten Jahren und eine Überproportionalität der HFF München gibt. Wir haben keinen Schlüssel dafür. Dieses Jahr ist es so gekommen. Auch an den anderen Hochschulen gibt es immer maßgebliche Filme. Am Ende müssen wir allerdings das Jahresthema am besten herausarbeiten und das schien uns mit dieser Auswahl am besten möglich.
Die Reihe ist – trotz des Förderpreises – keine Nachwuchsreihe. Das bietet eben die Möglichkeit, junge Filmemacher neben etablierte Filmemacher zu stellen. Das macht uns am meisten Spaß.
Die Filme müssen außerdem internationales Potential haben, sonst macht es für die Reihe keinen Sinn. Es bleibt weiterhin der Anspruch, dass mindestens 90% der Reihe auf internationalen Festivals gezeigt werden.
Wir sind froh, dass wir die Plattform sein können, auf der ein maßgeblicher Teil dieser Werke, die es besonders verdient haben, auch startet.
Der deutsche Film reist selten nach der Festivalkarriere und es ist schwer, einen Verleih im Ausland zu finden. Ein größeres Publikum wird wie bei „Toni Erdmann“ nur im Ausnahmefall erreicht. Das deutsche Independent Kino spielt sich fast nur noch auf Filmfestivals ab. Siehst du das ähnlich?
Es ist eine betrübliche Entwicklung, dass Filme es immer schwerer haben, die Aufmerksamkeit von einem breiten Kinopublikum zu erreichen. Wir merken schon, dass der richtige Festivalstart noch wichtiger wird und der Wille, in der Reihe zu laufen, zunimmt. Das Ökosystem für Kino verändert sich dynamisch und mit völlig offenem Ausgang. Es gibt aber auch immer diese wundersamen Ausreißer wie eben „Toni Erdmann“ oder „Oh Boy“. Diese Filme sind sicherlich noch seltener geworden im Vergleich zu früher. Andererseits kommt es auch vor, dass ein Film einen nicht ganz gelungenen Kinostart hat und sich dann aber zu einem Langläufer in der Festivallandschaft und der Rezeption entwickelt, wie zum Beispiel „Die Mitte der Welt“ aus dem letzten Jahr.
In dieser schnelllebigen Zeit braucht es extrem genaue Strategien und viel Geduld, damit sich ein Film langfristig durchsetzt. Das deutsche Kino wird seinen Weg in dieser Hinsicht aber finden. Wir sind froh, dass wir die Plattform sein können, auf der ein maßgeblicher Teil dieser Werke, die es besonders verdient haben, auch startet.
Letzte Frage: Was sind deine persönlichen drei Highlights aus dem diesjährigen Programm?
Es ist alles gut – ein Programm für „Lucky Loser“ und Leute, die sich manchmal ausgebrannt und leer, wie im falschen Film fühlen, vier Hände und immer einen „Thought of Ecstasy“ im Kopf haben. Und am Ende ist doch alles eine „Magical Mystery“.