„Im deutschen Kino geht es vorwärts“ – Interview mit Christoph Gröner zu der Reihe „Neues Deutsches Kino“ beim Filmfest München

Die Maßnahme (c) Filmfest München

18 neue deutsche Kinofilme feiern beim Filmfest München Weltpremiere. Ein Interview mit Kurator Christoph Gröner über den Neuaufbruch des deutschen Kinos, den Vormarsch Münchner Filmemacher und warum es deutsche Filme in Cannes schwer haben.

Ulrike Frick behauptet „Das bessere Kino findet heutzutage im Fernsehen statt“. Was sagst du dazu?
Ich schätze meine Kollegin sehr und finde, dass sie eine hervorragende Auswahl trifft. Ich glaube aber, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Kino – so wie ich es meist begreifen will – und Fernsehen gibt. Fernsehen ist zunächst ein erzählendes Medium, ein Medium, das zuerst eine soziale oder politische Botschaft vermitteln will, wenn es sehr gut ist. Kino will etwas anderes. Kino will eine gewisse Magie der Bilder erzeugen. Und nicht zuerst die Botschaft, die zu vermitteln ist, auf die Zunge der Protagonisten legen, sondern Bilder kreieren, die man nicht vergessen kann. Vielleicht will Kino im Ergebnis das Gleiche: Eine soziale Intervention sein. Aber ich glaube auf einem anderen Weg, in dem das Bild eine noch stärkere Bedeutung hat. Für viele Fernsehspiele gilt heute, dass sie zweifellos auch zunehmend Spiel- und Experimentierfeld sind. Das haben wir beim letztjährigen Gewinner aus der Fernsehreihe gesehen (dem Tatort „Im Schmerz geboren“ Anm. d. Red.). Im Allgemeinen ist der Purismus des Bildes, das pure Kino, eben nur im Kino zu finden. Und das bleibt weiterhin so. Es gibt Bilder, die in noch stärkerem Maße die größere Leinwand brauchen. Und die gibt es bei mir.

Was erwartet das Publikum in diesem Jahr?
Es werden 18 Weltpremieren gezeigt. Zwei mehr, als im letzten Jahr. Etwa die Hälfte davon hat jetzt schon (vier Wochen vor dem Festival) eine internationale Premiere nach dem Filmfest München zugesagt bekommen. Ich hoffe, dass wir einen Großteil der bestimmenden Filme dieses Jahres im Programm haben werden. Das Schöne ist, dass alle Formen dabei sind. Es sind 13 Spielfilme und fünf Dokumentarfilme. Alle Altersklassen an Regisseuren sind vertreten. Ganz wichtig ist, dass die Reihe ein Spektrum des deutschen Films sein will und nicht nur eine Nachwuchsreihe. Wir sind mehr. Wir wollen abseits des Berlinale-Wettbewerbs die perfekte Startplattform für den deutschen Film sein.

Kristallisieren sich bestimmte Themenschwerpunkte aus der Reihe heraus?
Tatsächlich hat sich bei den Sichtungen ein Jahresthema herausgeschält, das ich so nicht erwartet hätte. Die Reihe kreist um das Thema Identität. Und wenn man so will, um deutsche Identitäten. Es geht um Fragen wie „Wer sind wir eigentlich?“, „Wie wollen wir zusammenleben?“, „Wie funktioniert Gesellschaft?“, „Was macht jemanden aus, der sich für die Gesellschaft engagiert?“, „Funktioniert Demokratie überhaupt noch?“, „Kommunizieren wir noch richtig, oder ist alles Schein-Demokratie?“. Diese Fragen sind in unterschiedlichen Facetten aufgefächert.

Was für Facetten sind das? Was für Filme hast du ausgewählt?
Die eine große Facette im Spielfilm ist „Heil“ von Dietrich Brüggemann, der bei uns Weltpremiere feiert und danach auf vielen weiteren Festivals laufen wird. Vom Formalen her ein absoluter Gegenfilm zu „Kreuzweg“, der eher an der wunderbaren Boshaftigkeit anschließt, die auch schon „Renn, wenn du kannst“ hatte. Wir sind froh, dass er nach „Drei Zimmer, Küche, Bad“ damit zu uns zurückgekehrt ist. Es geht um Nazis, um mediale Demokratie, darum, dass Kommunikation heute in der Gesellschaft so lange nicht mehr funktioniert, bis die Nazis Panzer klauen können und versuchen, in Polen einzumarschieren.

Auf der anderen Seite zeigen wir „Mollath“, einen Film, der DEN Justizskandal der letzten Jahre aufarbeitet. Ein Film, der sich nicht nur an einem rein positiven Porträt versucht, sondern fragt, ob wir noch richtig miteinander kommunizieren. Die beiden Regisseurinnen Annika Blendl und Leonie Stade waren die einzigen, denen Mollath erlaubt hatte, mit ihm zu drehen. Sie haben ihn begleitet, seitdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Ein weiterer Dokumentarfilm ist „Staatsdiener“ von Marie Wilke über die Polizistenausbildung in Sachsen-Anhalt. Bisher wurde noch nie erlaubt, bei der Ausbildung zu filmen. Mit einer Nüchternheit wird der Prozess der Ausbildung gezeigt. Die Polizisten im Film sind hochreflektierte Staatsbürger, die ständig hinterfragen, wie weit sie gehen dürfen und was Staatsmacht überhaupt bedeutet.

Wenn man Identitäten in zwei andere Richtung fassen will, geht es in vielen fiktionalen Filmen um zersplitterte Identitäten oder Menschen, die ihre Identitäten suchen. Ein Genrefilm ist zum Beispiel „Boy7“ von Özgür Yildirim, der auf Augenhöhe mit „Who am I“ eine Geschichte mit David Kross in der Hauptrolle erzählt, der als Junge in einem U-Bahnschacht aufwacht und sein Gedächtnis verloren hat. Er weiß nicht, wer er ist und was er tun soll. Ein Sci-Fi Thriller, der visuell extrem aufwändig, wie die besten Hollywood-Filme aufgelöst und in seiner Jugendsprache sehr präzise ist.

Ein wunderschöner Film, der auch jetzt schon international ganz viel auslöst und um den sich die Festivals schlagen werden, ist „Der Nachtmahr“ des Regisseurs Akiz, der eine Coming-of-Age Geschichte erzählt. Er handelt von einem jungen Mädchen im Berliner Technohimmel, die sicherlich mit ihren Freunden auch nicht ohne Drogen auskommt und eine ganz labile Psyche hat. Es ist ein romantischer Horrorfilm im Strobogewitter mit Anklängen an Lynch und Tsukamoto.

Wenn man vom Neuaufbruch des deutschen Kinos reden will, sei es „Love Steaks“, „Finsterworld“ oder „Oh Boy“, gibt es in diesem Jahr auf jeden Fall auch wieder Filme, die extrem eigen daherkommen. Und es gibt eine Menge an Filmen, die tatsächlich politisch sind. In dem Sinne, dass die Filmemacher das Hier und Jetzt nicht mehr akzeptieren wollen. Sie wollen sich alle Strukturen noch einmal anschauen und fragen, ob alles noch richtig läuft, ob sie nicht filmisch eine Haltung beziehen müssen. Das ist eine Entwicklung, die spannend ist, da die Identität, so wie wir leben, hinterfragt wird.

In den vergangenen Jahren kamen viele Filme aus Köln oder Berlin. Wie schaut es in diesem Jahr aus?
Von Jahr zu Jahr ist es unterschiedlich. Wir versuchen zu vermeiden, dass wir regionale Schwerpunkte setzen oder einen Ausgleich haben wollen. Es geht bei den 250 produzierten Filmen in Deutschland immer darum, aus den 160 Projekten die wir recherchieren und sehen, das beste Zehntel zu finden. Das ist ein sehr enger Filter. Vorletztes Jahr hatten wir das volle Berlin-Jahr, letztes Jahr viele Kölner Filme und in diesem Jahr bin ich ganz froh, dass viele außerordentlich spannende Filme wieder aus München kommen.
Im Vordergrund sollte aber nicht das Regionale stehen, sondern die besten Filme. Und da ist es schön zu sehen, dass die besten Filme in jedem Jahr scheinbar aus einer anderen Ecke in Deutschland kommen.

Welche Filme kommen in diesem Jahr aus München/Bayern?
„Mollath“ von Annika Blendl und Leonie Stade, „Outside the Box“ von Philip Koch, „Die Maßnahme“ von Alexander Costea, „Coconut Hero“ von Florian Cossen, „Becks letzter Sommer“ von Frieder Wittich, „Schau mich nicht so an“ von Uisenma Borchu und „Night Session“ von Philipp Dettmer, der eine ziemliche Sensation werden wird, kommen von Münchner Filmemachern bzw. HFF-Studenten. Also die Münchner Filmemacher geben Gas.

Die Finanzierungsmöglichkeiten werden für junge Filmemacher immer schwieriger. Oft müssen sie auf alternative Finanzierungsquellen zurückgreifen. Macht sich das in Reihe bemerkbar?
Tatsächlich sieht man beides verstärkt in der Reihe. Zum einen den Low-Budget Film und den über Crowdfunding finanzierten Film. Der Film „Projekt A“ ist zum Beispiel komplett über Crowdfunding finanziert. Das Regisseursteam hat sich anarchistische Projekte in ganz Europa angeschaut. Sie waren in Griechenland, in Spanien aber auch in Biogärten in München, die kommunitaristisch und anarchistisch organisiert sind.
Dann gibt es Filme wie „Schau mich nicht so an“, der aus einem rein künstlerischen Impuls gestartet ist und Schwierigkeiten hatte, auf Gegenliebe im finanziellen Sinn zu stoßen. Es ist ungewöhnlich, einen so intensiven und künstlerisch gesetzten Film hinzustellen – durch manche Finanzierungsraster fällt das durch. Aber man muss ihn einfach gesehen haben.
Der Skaterfilm „Night Session“ von Philip Dettmer ist völlig aus eigener Tasche finanziert.
Es sind sehr viele Filme, die nicht viele Mittel haben. Sie leben stark davon, dass heute die digitalen Produktionsmittel vieles trotzdem ermöglichen. Die Filme haben keine ästhetischen und visuellen Nachteile mehr. Und sie können mithalten. Manchmal sind es gerade die Filme, die die künstlerische und ästhetische Spitze bilden.
Man sieht auf jeden Fall, dass ungewöhnlich finanzierte Filme aufgeschlossen haben.
Das kann man im Übrigen auch an der Auswahl des Deutschen Filmpreises sehen. Letztes Jahr waren „Love Steaks“ und „Finsterworld“ nominiert. Dieses Jahr ist es „Zeit der Kannibalen“ oder „Jack“. Das sind Filme, die kompromisslos sind.
Es geht darum, den großen Film, der aber künstlerisch gut ausformuliert ist und eine Stimme hat, genauso zu zeigen wie den kleinen Film. Das geht in Deutschland und kann spannend sein.

In Cannes war in diesem Jahr kein einziger deutscher Beitrag dabei. Hast du dafür eine Erklärung?
Was ein Glück! Die sind bei uns (lacht). Ich werde das öfter gefragt. Tatsächlich ist es so, dass sich die Situation zum deutschen Film und dem Bezug zu Cannes nicht verändert hat. Der deutsche Film ist nicht besonders hip, wenn es um Cannes geht. Mit der Ausnahme großer Meister. Wäre Wim Wenders nicht mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet worden, wäre er sicher mit seinem jüngsten 3D Film „Every Thing Will Be Fine“ in Cannes zu sehen gewesen. Dieses Cannes-Ticket lebt davon, Regisseure zu zeigen und zu pflegen. Dieses Ticket haben in Deutschland aber nur sehr wenige. Aus meiner Sicht ist das kein Grund, Trübsal zu blasen. Abseits von Cannes, was ja so magisch immer alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist mittlerweile bei renommierten A-Festivals der Trend sehr deutlich spürbar, dass deutsches Kino im Kommen ist und sehr genau darauf geschaut wird. Und im Übrigen auch bei uns sehr genau darauf geschaut wird. Zu den Festivals, die an deutschen Filmen interessiert sind, möchte ich Locarno, Toronto, San Sebastian sowie Karlovy Vary zählen. Wenn man dann mit einbezieht, dass das deutsche Kino mit „Victoria“ von Sebastian Schipper einen Film hat, der technisch und ästhetisch so innovativ ist, über den noch in Jahren geredet wird, muss ich sagen, dass es ein sehr spannendes Jahr ist. Ich finde, Cannes hat den Schuss noch nicht gehört. Es geht vorwärts.

Wie versucht ihr, euch mit eurem Programm von den Internationalen Hofer Filmtagen und der Berlinale abzugrenzen?
Grundsätzlich ist es so, dass München als Stadt der Filmbranche in einer fantastischen Position ist. Es gibt ein Drittel der Filmbranche in Berlin, ein Drittel in München und ein Drittel im ganzen Rest der Republik. Die Produktions- und Distributionsvoraussetzungen sind zunächst exzellent. Man muss sie nur nutzen. Für das Festival heißt das, dass man davon ausgehen kann, dass ein Drittel der Menschen sowieso schon in München ist und dass es nicht so schwer fällt, einen Großteil der anderen Entscheider in diese Stadt zu locken. Sie können die Plattform sehr gut für sich nutzen. Wir sind ein internationales Festival, deutscher Film ist nicht das einzige, aber unzweifelhaft ist es so, dass es eine bestimmte Funktion als Sommerfest der Branche gibt.

Bei uns kann man die Filme außerdem sehr gut sehen. Man hat Zeit zu diskutieren und kommt bezüglich des Themas, wo der deutsche Film steht und wo er hin will, einen Schritt weiter. Das ist bei anderen Festivals schwieriger. Außerdem sind die Journalisten, Produzenten etc. bei uns auch wirklich vor Ort. Natürlich sind noch mehr auf der Berlinale. Aber bei so vielen Weltpremieren wie bei der Berlinale, kann es auch passieren, dass sie für das ein oder andere Projekt nicht unbedingt die richtige Plattform ist. Mittlerweile suchen sich die wichtigsten deutschen Filme ihren Startplatz auf der Berlinale oder in München aus.

Wie hat sich die Reihe über die Jahre entwickelt?
Die stärkste Entwicklung ist, dass der kleine und große Film sehr gut nebeneinander stehen können. Die Entwicklung geht inhaltlich davon weg, dass wir über Nachwuchs diskutieren, sondern dass wir vor allem über Filme diskutieren. Das ist eine große Freude. Was sich innerhalb der Reihe auch verändert hat, ist das Vertrauen, Filme, die ein internationales Potential haben, in München zu starten und danach erst international. „Coconut Hero“ von Florian Cossen ist ein englischsprachiger Film, der in Ontario gedreht wurde und bei uns zum ersten Mal gezeigt wird. Das Team wartet nicht auf das Festival in Toronto, sondern sie wollen erst nach dem Filmfest ihre internationale Karriere starten.
Die Identität der Reihe reflektiert auch, dass deutsche Filmemacher international arbeiten wollen oder selber einen internationalen familiären Hintergrund haben. So toll, vielfältig und bunt ist unsere Gesellschaft.
Da dieses internationale Interesse besteht, wird in diesem Jahr nicht nur der Förderpreis vergeben. Die FIPRESCI hat zum ersten Mal eine internationale Kritikerjury zusammengestellt und wird zum ersten Mal einen Preis für eine deutsche Kinoreihe vergeben. Wir versuchen nichts anderes, als zu zeigen, dass diese Filme toll, einzigartig und auf internationalem Niveau gestaltet sind.

Eine Übersicht aller Filme aus der Reihe findet ihr hier.

groener
Christoph Gröner

Header-Foto: Szenenfoto aus „Die Maßnahme“ von Alexander Costea

 

1 Antwort

  1. Ich muss auch sagen, dass trotz der vllt. verhältnismäßig „schwierigeren“ Finanzierungsmöglichkeiten es schön ist, dass das deutsche Kino doch gute Filme liefern kann. Schön ist auch mitanzusehen, dass die Studenten immer internationaler denken und so wunderbare Produktionen entstehen! Wirklich toll. Danke an die kreativen Köpfe! 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert