19 Filme feiern in der Reihe Neues Deutsches Kino ihre Weltpremiere. Was der Cannes-Erfolg von „Toni Erdmann“ für das deutsche Kino bedeutet und was das Publikum in der Reihe sonst noch erwartet, erzählt Programmer Christoph Gröner im Interview.
„Toni Erdmann“ von Maren Ade eröffnet das Filmfest und wird darüber hinaus noch einmal als Special Screening in deiner Reihe gezeigt. Wie habt ihr es geschafft, dass der Film bei euch auf dem Filmfest läuft?
Wir hatten zum Glück sehr früh und vor dem Hype einen Blick darauf werfen können und waren völlig begeistert. Als „Toni Erdmann“ dann trotz immens positiver Reaktionen bei der Preisverleihung in Cannes übergangen wurde, war er für uns die richtige Wahl als Eröffnung. Es ist ganz besonders toll, dass das gesamte Team nun zu uns kommt. „Toni Erdmann“ ist einerseits ein ungewöhnlicher Eröffnungsfilm, weil er 160 Minuten lang ist. Andererseits ist es der perfekte Eröffnungsfilm, weil er für das deutsche Kino mit der Teilnahme in Cannes und für das Publikum ein absolutes Wohlfühlerlebnis ist. Der Film überrascht einen an jeder Ecke und die Länge ist überhaupt nicht spürbar.
„Toni Erdmann“ wird in der Presse als neue Hoffnung für den deutschen Film bejubelt, als der Beginn einer neuen Ära. Stimmst du dem zu?
Mein Eindruck ist, dass das Interesse am deutschen Film global gesehen durchaus wieder erwacht ist. Die Überraschung ist nun groß, weil die Leute wieder genauer hinsehen. Das heißt aber nicht mehr und nicht weniger, als dass die internationale Filmwelt ein bisschen nachlässig hingeschaut hat. Ich beobachte seit bestimmt fünf Jahren, dass der deutsche Film stärker wird.
Die Reaktion auf „Toni Erdmann“ ist euphorisch. Aber davor gab es allein in diesem Jahr schon „Wild“ von Nicolette Krebitz, der extrem gefeiert wurde. Und mit „24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached lief ein Film einer Debütantin im Wettbewerb der Berlinale. Nicht zu vergessen Maria Schraders sensationeller Film „Vor der Morgenröte“. Nicht nur diese Filme zeigen, dass es eine gute Zeit für das deutsche Kino ist und offensichtlich auch eine gute Zeit für deutsche Regisseurinnen. Sie haben ordentlich Selbstbewusstsein getankt. Sie treffen auch unabhängig von einer real existierenden Quote offensichtlich auf offenere Ohren und Türen. Das sieht man auch an der Reihe Neues Deutsches Kino, in der viele Filme von Regisseurinnen laufen.
Was ein Unterschied zum Vorjahr ist.
Es waren im letzten Jahr auch schon viele weibliche Produzentinnen dabei, und natürlich auch Filme von Regisseurinnen. Der weibliche Blick – was auch immer das nun genau sein mag – reüssiert schon länger. Uns als Festival kann meiner Meinung nach nur die Qualität des einzelnen Films und nicht eine Quotenfrage interessieren. Es ist ganz wichtig, dass die Filme aus sich heraus überzeugen. Das Angebot an Filmen von Regisseurinnen hat sich aber tatsächlich deutlich erweitert. Und im Ergebnis ist es so, dass die Filme von Frauen uns sehr überzeugt haben und auch das Publikum überzeugen werden. Die Sensibilität ist geweckt, vor allem aber sind die Filme einfach gut.
Die Themen Leidenschaft und Liebe sind in diesem Jahr die dominierenden Motive in deiner Reihe. „Sie küssen und sie schlagen sich, manchmal bringen sie sich auch um“ hast du deine Filmauswahl zusammengefasst. Verkriechen sich die jungen Filmemacher angesichts der komplexen Weltlage ins Private?
Überhaupt nicht. Die Fragen des Zusammenlebens und wie wir in sexuellen Dingen miteinander umgehen, sind zutiefst politisch. Diese Komplexität wird von den Filmemachern aufgenommen. Das ist keinesfalls einfach oder ein Rückzug der Filmemacher. Die Filmemacher stellen große Fragen und zeigen in ihren Filmen, dass wir überhaupt keine Antworten haben, weil wir alles aushandeln müssen. Ein Beispiel dazu ist der Dokumentarfilm „Violently Happy“ von Paola Calvo über Sadomasochismus in Berlin. So, wie die Leute damit umgehen, ist es eigentlich eine Erweiterung von Yoga: Selbstverwirklichung mit anderen Mitteln und auch durch Schmerz. Da muss man nicht mitgehen. Aber es ist ein irre genauer, expliziter Einblick. Das ist nur ein extremer Ausdruck dafür, dass wir alle, wenn wir als Gesellschaft frei zusammenleben, noch viel mehr im Umgang miteinander verhandeln müssen als früher. Aber diese Freiheit hat eben auch eine große Suche und eine große Irritation zur Folge. Da sind die Filmemacher voll auf der Höhe der Zeit, das finde ich imminent politisch.
Ausdrücklich politische Themen spielen in vielen Filmen eine Rolle. Zum Beispiel in „Das Versprechen“, einer True-Crime-Doku, die sehr aktivistisch um die Entlastung des inhaftierten Deutschen Jens Söring in den USA kämpft. Oder in dem dystopischen Thriller „Volt“, in dem eine brutalisierte Polizeigruppe in Deutschland in naher Zukunft Flüchtlinge und Ausgestoßene zusammenpfercht. Darin stellen sich die ganzen Fragen von Integration und schauen uns an. Konzeptuell ist der Film sehr genau, passt exakt in das Heute – obwohl es natürlich einige Jahre bis zur Realisierung brauchte.
Und in „Die Habenichtse“ wird ein menschliches Drama vor dem Hintergrund von 9/11 erzählt. Ein Moment, der eine absolute Zäsur darstellte, an dem sich so deutlich wie zuvor nicht die Frage stellte, ob in unseren eigenen Leben genauso wie in der Politik – national wie global – noch irgendetwas steuerbar ist.
Ist das eine Fortentwicklung im Vergleich zu den Filmen vom letzten Jahr?
Gutes Kino schaut sich die gesellschaftlichen Umstände immer an. Das war auch sehr stark in den letzten Jahren erkennbar. „Der Nachtmahr“ hat Geschlechterbilder von Jugendlichen heute verhandelt. „Babai“ war ein Flüchtlingsdrama und Uisenma Borchu hat in „Schau mich nicht so an“ die Genderfrage radikal gestellt. Das hat sich nicht verändert. Was sich verändert hat, ist der steigende Anteil von Filmen von Frauen sowie angesichts der Zahl von Koproduktionen eine noch stärker gewordene internationale Ausstrahlung der Reihe. Die Reihe soll insgesamt ein Panorama sein, in dem unterschiedliche Ansätze krass aufeinander knallen – von kommerziell bis experimentell. Mit Sven Taddicken, Klaus Lemke, Marcus Vetter, Dani Levy werden die Werke von etablierten Filmemachern neben die von jungen Filmemachern gestellt. Die Handlungsorte sind beileibe nicht nur hier: Wir haben ein Roadmovie in Kurdistan („Haus ohne Dach“) und eines, das von Rumänien nach München führt („Die Reise mit Vater“). Und der wunderbare „Anishoara“ wurde in und mit einem moldawischen Dorf gedreht. Daneben steht ein im besten Sinne lokaler Film wie „Dinky Sinky“ über den Kinderwunsch einer Mitt-Dreißigerin – sehr münchnerisch im Setting und global im Thema.
Daneben wird in deiner Reihe mit dem Dokumentarfilm „Zeigen was man liebt“ über die damals jungen Filmemacher der sogenannten Münchner Gruppe auch ein filmhistorischer Schwerpunkt gesetzt.
Die Frage des Genrefilms, sagen wir vielleicht des lässigen Films, wird seit einiger Zeit mit Vehemenz gestellt. Filmemacher wie Dominik Graf fordern beständig ein anderes, ein wildes deutsches Kinos. In diesem Kontext muss man unbedingt das Wirken der Münchner Gruppe neu bewerten. Ansätze dazu gibt es: Es gab Werke wie „Überall Blumen“ und „Verdammte Liebe Deutscher Film“ auf der Berlinale, es gab erst kürzlich eine Retrospektive über die Münchner Gruppe in Basel und es gibt eben nun den Film „Zeigen was man liebt“, der deutlich macht, dass Filmemacher wie May Spils, Werner Enke, Klaus Lemke oder Rudolf Thome in der offiziellen Filmgeschichtsschreibung der BRD eher zu wenig Platz eingeräumt wird. „Zeigen was man liebt“ zusammen mit der Premiere von Klaus Lemkes „Unterwäschelügen“ birgt die Möglichkeit, dass man sich noch einmal eine wilde Zeit des deutschen Kinos anschaut – und was sie für die Zukunft bedeuten kann.
Im letzten Jahr wurde erstmals der FIPRESCI-Preis vom internationalen Verband der Filmkritik verliehen und ging an Uisenma Borchus Abschlussfilm „Schau mich nicht so an“. Ziel des Preises ist es, internationale Kritiker mit deutschen Filmen und Entwicklungen im deutschen Kino bekannt zu machen. Ist dies gelungen?
Tollerweise ist das gelungen. Für Uisenma führte der Weg vom FIPRESCI Preis zum Bayerischen Filmpreis und jetzt zu extrem euphorischen Kritiken zum Kinostart in vielen großen überregionalen Zeitungen. International startete der Film bei den Black Nights in Tallinn. Von dort wurde „Schau mich nicht so an“ zuerst sehr stark Gesprächsthema in Skandinavien und hatte dann einige starke asiatische Premieren, zum Beispiel nun in Taipeh, wo es es eine sehr gute Reihe für junge Regisseure gibt. Uisenma gilt jetzt schon als Kultregisseurin in Asien und wurde kürzlich zur „Mongolian Woman of the Year“ ernannt. Es ist insgesamt eine große Freude, dass beim Filmfest der einzige FIPRESCI Preis für deutsches Kino vergeben wird. Ich bin mir sicher, dass auch die neue Jury einen Film finden wird, der eine ganz starke internationale Ausstrahlung entfalten kann.
Neben „Schau mich nicht so an“ laufen viele Filme aus deiner Reihe nach der Premiere bei renommierten Festivals und sind international erfolgreich. Für welche Filme aus dem diesjährigen Programm siehst du eine erfolgreiche Karriere voraus?
Da möchte ich lieber auf das letzte Jahr Bezug nehmen. Alle Filme haben eine internationale Karriere gestartet. Das ist genau das, was wir wollten. Das erwarte und erhoffe ich jetzt natürlich auch für alle Filme aus der Reihe. Eingetütet sind Premieren in Moskau, Karlovy Vary, San Sebastian. Der Film „Die Mitte der Welt“ von Jakob M. Erwa, ein Schwulen Coming-of-Age Film, feiert neben der Premiere beim Filmfest ausgerechnet seine zweite Premiere in Moskau. Es könnte natürlich kaum einen besseren Ort als Moskau für diese sehr queere sinnliche und auch erotische Coming-of-Age-Geschichte zwischen zwei Jungs geben. Dort kann der Film wirklich noch einmal zusätzliche Wirkung entfalten.
Teilnahmen an Festivals, die später im Herbst sind, stehen noch aus. Aber da sehe ich überhaupt keine Probleme, da die Festivals auch zu uns kommen, um zu scouten: zum Beispiel Rotterdam, Warschau, Busan und viele mehr. Auch amerikanische Festivals kommen plötzlich zu uns. Und wenn die Festivals nicht zu uns kommen, schauen sie unser Programm genau an. Das ist etwas, was wir wirklich sein wollen: die Startplattform in eine internationale Karriere. Keine Nachwuchsplattform, kein Schutzraum. Wenn die Filme stark genug sind, laufen sie bei uns.
Fünf FFF-geförderte Produktionen laufen in der Reihe Neues Deutsches Kino: Toni Erdmann, 5 Frauen, Dinky Sinky, Die letzte Sau und Die Reise mit Vater.
Das gesamte Programm der Reihe Neues Deutsches Kino gibt es hier.
Interessanter Artikel, danke für die vielen Informationen.
Gruß Sandra