Wenn am 7. Mai das 30. DOK.fest eröffnet wird, steht China im Fokus der DOK.guest-Gastlandreihe. Fünf Dokumentarfilme aus und über China porträtieren ein Land, das seit Jahrzehnten einen mal rasanten, mal steten Wandel erlebt. Wie es um den unabhängigen chinesischen Dokumentarfilm bestellt ist, wie das Drehen in China aussieht und welche Themen dabei auf große Resonanz stoßen, erzählt Daniel Sponsel, der Geschäftsführer und künstlerische Leiter des DOK.festes, im Interview.
Wieso haben Sie nach den Gastländern Brasilien, Québec und der arabischen Welt dieses Jahr China ausgewählt?
China ist ein so großes Land, das seit einiger Zeit sehr im Umbruch ist. Man kann es als einzelnes Land gut fokussieren, mit fünf, sechs Filmen aber auch nur annähernd davon erzählen, was dort alles passiert und welche Auswirkungen China auf den Rest der Welt hat. In diesem Jahr sind es drei Filme von chinesischen Filmemachern und zwei von europäischen Filmemachern über China. Wir möchten auch den Blick von außen auf die Länder werfen.
Wir hatten auch Russland und die Ukraine in der engeren Wahl für die Reihe. Aber China drängt sich seit Jahren für diese Fokusreihe auf.
Wie sieht die chinesische Independent-Dokumentarfilm-Szene aus?
Das ist eine schwierige Frage. De facto gibt es keine Pressefreiheit und auch keine freien Arbeitsmöglichkeiten in China. In keinem anderen Land ist es so mühsam herauszufinden, wie Filmemacher trotzdem agieren können, was geht und was nicht geht. Das sieht man konkret an dem Fall Ai Weiwei. Was darf er und was nicht? Wie sehr wird er gegängelt? Das ist von außen betrachtet schwer zu beantworten. Einerseits ist er festgesetzt – er steht ja unter Hausarrest –, andererseits gibt es dann immer wieder Filme mit und über ihn. Es dringt auch immer mal wieder etwas nach außen. Es ist schwierig zu sagen, wie die Kanäle im Einzelnen laufen, wie wirklich Projekte und Filme von unabhängigen Filmemachern nach außen kommen und ob diese dann auch in der Lage sind, das Land zu verlassen oder nicht. Das ist von Film zu Film und von Filmemacher zu Filmemacher unterschiedlich.
Die DOK.guest-Reihe fokussiert Independentfilme. Gibt es auch große staatliche Dokumentationen und Ausstrahlungskanäle? Ist Dokumentarfilm auch für den normalen Chinesen ein Thema?
Ich selbst war nicht in China, aber ich habe Kontakt zu vielen Leuten aufgenommen, die dauernd da sind und uns sehr nahe stehen. Die Chinesen haben von Staatsseite her den Dokumentarfilm als etwas erkannt, mit dem man Informationen gut setzen kann. Informationen, die man natürlich steuern kann. Und das wird vom Staatsfernsehen und im internationalen Markt forciert. Der Dokumentarfilm ist dazu ein gutes Instrument, weil er im Budget, in der Herstellung nicht so teuer ist, weil er schneller hergestellt werden kann und weil er sich gut über alle Kanäle kommunizieren lässt.
Gibt es eine vom Staat gesteuerte Dokumentarfilmproduktion?
Da gibt es ganze Produktionsstätten und Firmen für Auftragsproduktionen. Wobei, was heißt da Auftragsproduktionen? Es ist ja nicht so, dass das Politbüro die Filme in Auftrag gibt und dann wirklich steuert. Es gibt, wie wir das aus Ländern mit diesen Strukturen wissen, jede Menge Apparate, die das steuern. Da gibt es natürlich immer einen Spielraum. Das ist ein riesiges Land mit sehr unterschiedlichen Regionen. Das Bemerkenswerte an Ländern mit diesen Regierungsstrukturen ist immer, dass sich natürlich längst nicht alles kontrollieren lässt.
Gibt es wirklich eine Chance in China, kritische Themen anzusprechen, oder muss der Dokumentarfilm brav bleiben, um existieren zu können?
Ich habe in den letzten Jahren und bei der Auswahl für 2015 kritische Filme gesehen. Die sind aber offen kritisch. Ich kann keine Parteizugehörigkeit erkennen, also eine direkte Opposition, die einer anderen Partei zugehört. Diese Filme sind an sich gesellschaftskritisch. Ich weiß nicht, was mit diesen Filmen auf dem chinesischen Markt passiert. Für unsere Augen und Zuschauer gehen diese Filme kritisch mit diesen Themen um. Wir hatten auch vor zwei Jahren schon einen Film über Asbestabbau in Nordchina im Programm, in dem es unzumutbare Arbeitszustände zu sehen gibt. Ob dieser Film dann in China im großen Maße die Runde macht, das weiß ich nicht.
Müssen die Filmemacher Repressionen fürchten, wenn solche Filme im Ausland gezeigt werden?
Das ist eine Willkür, die wir auch aus anderen Ländern kennen, zum Beispiel auch aus dem Iran, wo wir nie genau wissen, wann die Willkür zugreift. Manchmal dürfen Filmemacher problemlos reisen, manchmal werden sie behindert, manchmal gibt es Repressalien, wenn sie zurückkommen. Da muss man immer aufpassen, dass man keinen Fehler macht und der Filmemacher dann nur aufgrund einer Reise Repressalien zu fürchten hat. Das ist aber eine Sache, die wir dann leider immer nur am Rande verfolgen können. Es ist nicht möglich, da so nah dran zu sein, um das alles wissen und steuern zu können und so handeln zu können, dass es immer richtig ist. Wir haben die Filme ausgewählt, aber wir sind noch nicht sicher, wie wir mit der Einladungspolitik umgehen. Das finden wir gerade heraus. Wir möchten auf keinen Fall irgendjemandem schaden.
Wie sehen nicht-chinesische Dokumentarfilmer China und welche Themen werden beim DOK.fest angesprochen?
Wir haben jetzt drei Filme aus China und einen aus Singapur im Programm. Wenn wir Europäer in das Land fahren, dann sind das in der Regel die großen politischen Themen wie zum Beispiel das Staudammprojekt. In diesem Jahr haben wir einen Film von einem französischen Filmemacher zu einem Wasserleitungsprojekt, dass das Wasser aus dem feuchten Süden in den trockenen Norden transportiert. Es ist das größte Wasserleitungssystem der Welt. Umweltthemen sind in China immer große Themen, weil die Chinesen bis dato mit wenig Rücksicht auf die Natur Projekte durchgezogen haben, um die Wirtschaft zu stärken, auch gegen die Interessen der ländlichen Bevölkerung. Ca. 330.000 Menschen wurden für diese Wasserleitung umgesiedelt, das sind amtliche Zahlen. Der Film widmet sich diesem Wasserleitungsprojekt, dem Widerstand dagegen und den existierenden Bedürfnissen in ihrer Komplexität.
Ist es für Ausländer oder Nicht-Chinesen leichter, in China Dokumentarfilme zu drehen als für Chinesen?
Es ist bestimmt nicht leicht. Man muss eigene Strategien finden. Was nicht funktioniert, ist, zu glauben, dass man mit großem Brimborium, großen Ansagen und einem Script, in dem dann schon kritische Punkte formuliert sind, eine Drehgenehmigung bekommt. Andererseits braucht man Drehgenehmigungen. Wenn man erwischt wird ohne Drehgenehmigung, dann kann das wirklich zu Problemen führen. Wobei auch wiederum viele Filme oder Szenen bestimmter Filme ohne Drehgenehmigung entstehen. Da kommt es auf den Film an, auf die Protagonisten, auf den Drehort, ob man lieber mit den Sicherheitskräften kooperiert oder ob man undercover arbeitet. Auch die Ein- und die Ausreise ist möglich, wenn man nicht ganz große Fehler macht. Denn dafür ist das Land zu groß und zu wenig kontrollierbar. Eine Bildaufnahme eines Touristen, der mit einem Fotoapparat dreht, ist nicht zu kontrollieren.
Werden in China Dokumentarfilme mit solchen verdeckten, einfachen Mitteln gedreht?
Das ist unterschiedlich. Die Filme, die wir in den letzten Jahren im Programm hatten, wie auch die, die wir auch dieses Jahr im Programm haben, haben da unterschiedliche Strategien. Es ist immer nur die Frage, welchen Duktus der Film dann hat und wie das noch steuerbar ist. Wie kritisch er ist, wie politisch er ist. Da müssen die Filmemacher aufpassen. Ich glaube, zu drehen ist noch nicht das größte Problem, sondern einen zu kritischen Film auch zu publizieren.
Wie sind die ausgewählten Filme zu Ihnen aufs DOK.fest gekommen?
Wir haben verschiedene Kanäle angebohrt, von denen wir wissen, dass sie seit Jahren die Beziehungen pflegen, haben über diese Kanäle auch zur Einreichung aufgefordert und haben Empfehlungen bekommen. Da kamen schnell viele Filme zusammen. Wir hatten auch in den letzten Jahren, obwohl wir das nie fokussiert und nie forciert haben, immer Einreichungen. Wir hatten in den letzten Jahren immer ein, zwei, drei Filme aus oder über China im Programm. Die Kanäle funktionieren. Wir mussten nicht so viele Kanäle anfragen, um an Bewerber zu kommen.
Das heißt, China ist immer ein Thema, auch wenn es nicht das Hauptthema ist.
Ja, so wie Indien immer ein Thema bei uns ist. So wie Indien immer mit ein oder zwei Filmen über das Land vertreten ist, ist China schon seit zehn, 15 Jahren für Dokumentarfilmer ein Thema und es kommen immer Filme auf den internationalen Markt, auch die auf verschiedenen Festivals. Da gibt es genügend Filme, und die sind auch greifbar.
Welche Dokumentarfilmthemen interessieren Sie beim DOK.fest?
Der Film MOTHERS behandelt ein konkret chinesisches Thema, nämlich die Ein-Kind-Politik. Diese wird seit Jahrzehnten durchgesetzt. Der Film spielt in der ländlichen Region, wo diese Politik auch verfolgt wird. Aber er erzählt auch von den Menschen, die den Apparat vertreten und diese Politik umsetzen sollen. Dazu gibt es Schulungen und Vorträge und die Bevölkerung wird hinters Licht geführt. Die Frauen werden sterilisiert, und es wird gesagt, dass das ein harmloser Eingriff ist. Es kann ein Eingriff ohne Folgen sein, aber es kann auch Folgen haben für die Frauen, und darum geht es in dem Film. Darum, wie ein Einzelner sich dagegen auflehnt, eine Gegenaufklärung versucht und die Bevölkerung darauf hinweisen möchte, dass das ein schwerer Eingriff ist. Das ist eine ganz China-spezifische Geschichte.
Welche Themen werden außerdem angesprochen?
Die drei weiteren Filme widmen sich ganz verschiedenen Themen: LITTLE PEOPLE BIG DREAMS erzählt von den Diskriminierungen die Menschen in China erleben, die kleinwüchsig sind. Der Film THE LAST MOOSE OF AOLUGUYA erzählt die Geschichte von einem Protagonisten, der der ethnischen Minderheit der Ewenkis im Norden Chinas angehört und ist ein berührendes Portrait. THE IRON MINISTRY, der während drei Jahren unterwegs auf Chinas Eisenbahnen gefilmt wurde, zeichnet das gewaltige innere und dichte Gewebe dieses riesigen Landes in Bewegung – Fleisch und Metall, Licht und Dunkel, Sprache und Klang.
Maria-Mercedes Hering