Der Münchner Filmemacher Alexander Adolph drehte 2012 einen kontrovers diskutierten Tatort. Eine Stimme spielt darin die zentrale Rolle.
Hmrrh. Ein Räuspern. Mehr ist es nicht. Hmrrh. Ein Räuspern auf einer Tonaufnahme. Hmrrh. Das Räuspern des Mörders. Immer und immer wieder. Eine Endlosschleife, die der junge Kommissar Gisbert Engelhardt seinen beiden älteren Kollegen Batic und Leitmayr vorspielt. Gisbert legt sein Jackett ab, öffnet den obersten Knopf seines engen Kurzarmhemds. Er gestikuliert sich in Rage, feuert den Tontechniker an: „Lauter! Lauter!“ Die Schnitte sind hart, die Kamera zoomt rein und raus. Gisbert, aufgelöst, erhebt die Stimme: „Da! Das ist unser Mörder! Das ist das, was wir von ihm haben!“
Der Grundkonflikt der Münchner Tatort-Episode „Der tiefe Schlaf“ ist klassisch. Ein Mädchen wurde entführt, vergewaltigt, ermordet. Einziges Indiz: Eine Tonaufnahme auf dem Anrufbeantworter der Eltern, der letzte Anruf des Opfers – aus dem Auto des Täters. Um diesen Fall zu lösen, werden die altgedienten Kommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) von einem neuen Kollegen unterstützt: Gisbert Engelhardt. Fabian Hinrichs gibt diesen impulsiven jungen Profiler als Springinsfeld der Kriminalistik. Ein Arbeitstier, ein Besessener. Gisbert nervt, er macht Fehler, er schießt über das Ziel hinaus. Und er muss sterben.
Die Zuschauer waren schockiert. Kein Tatort in der langen Geschichte der Serie löste so viel Feedback aus. Nach der Erstausstrahlung im Dezember 2012 brach eine Flut über die Macher herein, die zwei Monate lang nicht abebbte. Die Sonntagabend-Sofa-Republik meldete sich zu Wort. Eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „Wir wollen Gisbert Engelhardt zurück“ entstand. Mehr als 5.000 Menschen klickten auf den „Gefällt mir“-Button.
Ein Altbau in einer schmalen Seitenstraße in der Nähe des Sendlinger Tors. Ein schwarzer Ledersessel knarzt genüsslich, als sich Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph zurücklehnt: „Es war krass.“ Die Zuschauer waren verstört. Ein junges Mädchen wird brutal ermordet, ein Kommissar muss sterben. Und am Ende bleibt offen, wer der Mörder war? Ziemlich viele Brüche für einen gemütlichen Sonntagabend.
„Normalerweise ist der Tatort eine Verabredung mit dem Zuschauer. Das Böse wird bestraft, der Täter wird gefunden. Dieses Konzept haben wir zerstört.“ Adolphs Büro ist spartanisch eingerichtet. Fischgrätenparkett, Ledercouch, Tisch. Nichts in diesem kargen Raum lenkt ab vom Wesentlichen, der Stimme des Regisseurs. Geerdet, mit viel Bass.
In Adolphs Tatort-Inszenierung ist der Fixpunkt eine Tonaufnahme, genauer eine Stimme. Die Stimme des Mörders. Sie ist der Anker der Geschichte, ihr Grundstein. „Sie können mit Bildern und Splattereffekten viel erzählen, aber das wirkliche Grauen spielt sich im Kopf ab“, sagt Alexander Adolph. Er wolle auf der erzählerischen Ebene vieles dem Zuschauer überlassen, dessen Fantasie. Und da sei Ton besonders wichtig.
Wenn man wie Adolph mit seinem Film die Zuschauer fordern möchte, sie aufrütteln oder gar verstören, muss man mehr als hundert Jahre Filmgeschichte mitdenken. Wir alle, die wir Medien und Filme konsumieren, haben eine bestimmte Sozialisation erfahren. Wir kennen Genrekonventionen und Standardsituationen. Uns schockt so leicht nichts mehr. Besonders im Krimi.
Schon in einem der ersten Tonfilme aus dem Jahr 1931, Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, verrät sich der Täter durch seine Stimme. Ein Kindermörder geht um in einer deutschen Großstadt, ein Schatten auf der Leinwand. Er spricht ein kleines Mädchen an, kauft ihr einen Luftballon. Und er pfeift. Er pfeift das berühmte Orchesterstück „In der Halle des Bergkönigs“ von Edvard Grieg. Als später diese unverkennbare Melodie ein zweites Mal erklingt, ist dem Zuschauer sofort klar: Das ist der Mörder.
Die Stimme als Anhaltspunkt. Sie schafft Bedeutung, sie identifiziert. Sie kann aber auch in die Irre führen. Ein Meister der filmischen Konfusion ist William Friedkin, Regisseur von „French Connection“ und „Der Exorzist“. 1980 schuf der Amerikaner den Undercover-Krimi „Cruising“. Die New Yorker Schwulenszene wird darin von einem Serienkiller heimgesucht. Der Polizist Steve Burns, gespielt von Al Pacino, sinkt immer tiefer in die Welt der Sadomaso-Clubs, auf der Suche nach dem Täter. Mord folgt auf Mord, am Ende wird ein Mann verhaftet. Die Schuldfrage bleibt offen und der Zuschauer verwirrt zurück.
Wer ist der Mörder? Auch in „Cruising“ ist die Stimme des Killers der einzige Anhaltspunkt, an dem sich der Zuschauer orientieren kann. William Friedkin nutzte diese Konstellation, um maximale Verwirrung zu stiften. Er ließ den maskierten Mörder von unterschiedlichen Schauspielern spielen, synchronisierte in der Postproduktion die Darsteller aber mit einer einzigen Stimme. Wenn der Serienkiller mordet, spricht der tote Vater des Mannes, der am Ende verhaftet wird.
Wer ist derMörder? Gibt es mehrere Täter? Was ist das Motiv? Friedkins Inszenierungskniffe entfalten ihre Wirkung unterbewusst, sie verwirren und verstören. Und sie führen schließlich dazu, dass sich das Konzept der Identität an sich auflöst.
Alexander Adolph ist sich seiner Vorgänger in der Filmgeschichte bewusst. Auch sein Tatort spielt mit der Wirkung unterschiedlicher Stimmen. Ganz am Ende steht ein geschundener Kommissar Leitmayr an einer Imbissbude in der Nähe des Tatorts. Gisbert ist beerdigt, der Fall zerfasert. In der Mittagshitze kippt Leitmayr ein Bier nach dem anderen. Hmrrh. Da ist es. Das Räuspern. Der Kommissar dreht sich langsam um, spricht den Mann an, der mit dem Rücken zu ihm sitzt. Doch der flieht.
Und der Kommissar hetzt hinterher. Im Zuschauer keimt die Hoffnung auf Erlösung, auf Klarheit. Doch die bleibt aus. Auf der Flucht wird der vermeintliche Täter von einem Auto überfahren.
90 Minuten sind vorbei und alles ist offen. War das der Täter? Schließlich räusperte er sich doch wie der Mörder? Alexander Adolph grinst: „Das hat mich die Bunte in einem Interview auch gefragt.“ Der großgewachsene Mann lässt wieder den Sessel knarzen, als er zum dritten Mal sein Glas nachfüllt. Viel Wasser, gut für die Stimme. Dann lässt er die Bombe platzen.
Es seien tatsächlich zwei unterschiedliche Stimmen gewesen. Das Räuspern in der Tonaufnahme und das Räuspern vor der Imbissbude. Ein Friedkinscher Kunstgriff. „Da gab es bei der Produktion einen großen Streit. Ein Sounddesigner sagte: ‚Man kann die Leute nicht so verrückt machen.’“ Alexander Adolph wollte die Leute so verrückt machen.
Der Münchner Regisseur hat eine der unkonventionellsten Episoden der Tatort-Reihe gedreht. Und dafür 2013 den Preis für das beste Drehbuch beim deutschen Fernsehkrimi-Festival gewonnen. Er hat mit der Tonspur gespielt, mit den Stimmen. Er hat den Zuschauer in die Irre geführt und ihm am Ende die sonntägliche Erlösung verwehrt. Er hat Bedeutung konstruiert und wieder dekonstruiert. Das hat er von den Großen der Filmgeschichte gelernt. Von Michelangelo Antonionis „Blow Up“, dem Paradebeispiel eines filmischen Irrgartens. Können wir dem, was wir sehen, was wir hören, wirklich vertrauen?
Eine Stimme ist der Fixpunkt, um den sich die Erzählung in „Der tiefe Schlaf“ dreht. Die Kommissare klammern sich ebenso wie die Zuschauer an diese Aufnahme. Sie gibt ihnen Halt. Doch schon lange bevor sich der Fall verliert, verlieren die Charaktere ihre Stimme. Sie sprechen miteinander, aber sie verstehen sich nicht. Der junge Gisbert will sich beweisen, scheitert aber immer wieder am bayrischen Dialekt: „Ich hab’ den nicht verstanden.“
Begrüßen sich zu Beginn die Kommissare und ihre Kollegen am Fundort der Leiche noch mit einer Flut aus „Servus“, „Hallo“ und „Grüß Gott“, hat es Batic nach dem Mord an Gisbert die Sprache verschlagen. Wie in Trance stapft er einen Gang hinunter, die Grußworte seiner Kollegen verhallen ungehört. Beinahe zerbricht das Team an diesem Todesfall. Vorbei die Frotzeleien, die Batic und Leitmayr sonst liebevoll wie ein altes Ehepaar austauschen. Sie sind unfähig, miteinander zu kommunizieren. Alexander Adolph nickt: „Dieser Film handelt davon, was es bedeutet, ein Opfer zu sein.“ Und Opfer haben keine Stimme.
Text: Julian Dörr